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Geschichte der Arbeitstherapie


 

Quelle: Ergotherapie / Vom Behandeln zum Handeln / Lehrbuch für die theoretische und praktische Ausbildung / Herausgegeben von: Clara Scheepers, Ute Steding-Albrecht und Peter Jehn / ISBN 3-13-114341-X

Kategorie: sehr empfehlenswert / Standartwerk für Ergo- und Arbeitstherapeuten/ -erzieher


In den letzten hundert Jahren der Psychiatrie wurde immer wieder versucht, einige dieser Aufgaben zu verwirklichen. Um den heutigen Stand der Arbeitstherapie zu verstehen, ist es wichtig, ihre wechselreiche Geschichte zu kennen. 

Hermann Simon

Hermann Simon wird als Vater der Arbeitstherapie bezeichnet. Er wirkte nach dem ersten Weltkrieg als leitender Arzt, vor allem im Landeskrankenhaus Gütersloh. Nach einer medizinischen Phase, in der auch für psychisch kranke Menschen „Bettruhe" verordnet wurde, weckte Simons Aufforderung zur „aktiven Krankenbehandlung" (Simon 1929) neue Impulse. 

„Leben ist Tätigkeit" 

Was man mit den Kranken unternimmt, wird vielleicht bei jedem Kranken anders sein. Wesentlich ist nur, dass man etwas unternimmt, abgestuft nach seinen verbliebenen Kräften.

Simon war bestrebt, möglichst alle Patienten zu einer Tätigkeit zu bringen, und schrieb „der Beschäftigungsgrad wird für uns so das Barometer für das Wetter, das jeweils in der Anstalt herrscht".

Der Ausgangspunkt für die aktivere Therapie von Simon war, dass in jedem Kranken ein Stück gesunder Persönlichkeit gefunden werden kann und dass jeder potentiell Arbeitskraft bleibt. Ferner sah er, dass viele Äußerungen - vorher als Krankheitserscheinung betrachtet, für die man die Kranken nicht verantwortlich machen konnte - gar keine Krankheitserscheinungen sind, sondern Ausdruck schlechter Gewohnheiten und unsozialen Verhaltens (infolge der Hospitalisierung). Solches Verhalten kann man den Kranken abgewöhnen, wenn man diese Gewohnheiten nicht mehr als selbstverständlich hinnimmt. Negative Gewohnheiten dürften nicht toleriert werden und es sollten ihnen direkte Maßnahmen folgen, die den Kranken erfahren lassen, dass schlechte Gewohnheiten, schlechte Führung oder schlechtes Benehmen nicht geduldet werden. Simon zufolge nimmt jede andere Haltung dem Patienten gegenüber diesem ein Stück Menschenwürde, erniedrigt und demütigt ihn. 

So kam Simon zu den drei Kernpunkten seiner aktiveren Therapie, nämlich:

Ø      Arbeit

Ø      Erziehung

Ø      eine gesunde und menschenwürdige Umgebung. 

Arbeit

Simon konnte es nur schwer ertragen, dass körperlich gesunde Patienten durch die Bettpflege (um 1900) vollkommen untätig gehalten wurden, wobei das Pflegepersonal ihre Wünsche erfüllte. Außerdem nahm er an, dass Nichtstun zu Langeweile führe und somit eine

vorhandene Energie - durch das Fehlen sinnvoller Ziele – möglicherweise für sinnlose Handlungen verwendet oder gar ganz lahm gelegt werde, wodurch Untätigkeit und Apathie entstehen. Sinnvolle Arbeit, die den gesunden Teil der Persönlichkeit und – den Verhältnissen entsprechend - die vorhandenen Fähigkeiten des Patienten anspricht, würde es ermöglichen, vorhandene Energie in gesunde Bahnen zu lenken, so dass der Patient sich zu einer angepaßteren Persönlichkeit entfalten könnte. Dies gelingt, wenn die Arbeit auf dem höchstmöglichen Niveau des Patienten gehalten wird, unter Berücksichtigung des Ausmaßes, in dem seine Fähigkeiten beeinträchtigt sind. Dieses Ausmaß ist vom Arzt und dem Pflegepersonal zu ermitteln, die den Patienten beim Beherrschenlernen der Tätigkeiten betreuen. 

Erziehung

Simon geht ferner davon aus, dass angepasstes Verhalten erreicht werden muss.

Ø      Ordnung,

Ø      Regelmäßigkeit

Ø      Disziplin

sind dabei die besten Möglichkeiten.

Belohnung bei Einfügung in das System und Strafmaßnahmen bei Regelwidrigkeiten sollten konsequent durchgeführt werden.  

Menschenwürdige Umgebung

Eine der bahnbrechendsten Auffassungen von Simons war, dass die Umgebung des Patienten dem gesunden Verhalten förderlich sein und ihn veranlassen sollte, nützlichen, positiven Gebrauch von ihr zu machen. Das Fehlen einer guten Unterbringung, guten Mobiliars, guter sanitärer und hygienischer Einrichtungen und das Fehlen von Essgeräten wirken demoralisierend und kennzeichnen ein nicht menschenwürdiges Dasein.

Dadurch, dass er die direkte Umgebung der Patienten verbesserte, gab er der Hoffnung Ausdruck, dass sie dann ein gesunderes, menschlicheres Verhalten zeigen würden. 

Tatsächlich waren damals bis zu 80% der Patienten in Gütersloh beschäftigt. Die gestufte Arbeitstherapie wurde damals vom Arzt verordnet, aber durchgeführt und getragen wurde sie vom Pflegepersonal, das selbst mitarbeitete und durch diese Haltung den Sinn der Arbeitstherapie demonstrierte. Das Vertrauen in die Arbeitsfähigkeit psychisch kranker Menschen und die daraus entwickelten Programme gestufter Arbeitstherapie wurden zurzeit

Simons in einigen deutschen und später angelsächsischen psychiatrischen Großkrankenhäusern praktiziert. In den darauf folgenden Jahrzehnten aber sank die Arbeitstherapie zu reiner Arbeit ohne Therapie ab. Sie diente immer weniger den Patienten und immer mehr der günstigen Wirtschaftsführung der großen Häuser. In den Handwerksbetrieben, der Küche und der häufig angegliederten Landwirtschaft waren Patienten tätig und ersetzten zum Teil eine volle Arbeitskraft. Sie bekamen oft nur ein geringes Taschengeld und waren deshalb finanziell total auf die Anstalt angewiesen. Dieser Zustand in den psychiatrischen Landeskrankenhäusern setzt sich bis in unsere jüngste Zeit fort. Er ist auch heute noch eine der schwersten Hypotheken, die die moderne Arbeitstherapie an ihrer Entwicklung hindert.

Sozialpsychiatrie

Auch nach dem Zweiten Weltkrieg stand in den Anstalten die Aufbausituation im Vordergrund. Hinzu kam die moralische Belastung der Psychiatrie durch die Euthanasie. Der damit verbundene Rückzug nach innen führte zu alten Strukturen, die Patientenarbeit wurde wieder einmal Bestandteil der Klinikorganisation, die Kliniken selbst wuchsen zu Großeinrichtungen mit bis zu 3000 Betten an.

Mit der Einflussnahme der sozialpsychiatrischen Bewegung auf das traditionelle psychiatrische Geschehen in Deutschland ergaben sich Veränderungen, die auch Auswirkung auf die weitere Entwicklung der Arbeitstherapie hatten. Die Gründung des Mannheimer Kreises am 29. und 30. Mai 1970 in Mannheim durch eine Gruppe kritischer, aus der 68er Bewegung hervorgegangener Schwestern, Psychiater, Sozialarbeiter, Psychologen und Arbeitstherapeuten, setzte eine Reformbewegung in Gang, die die Psychiatrie noch bis heute wesentlich bestimmt.  

Die Tagung in Mannheim „diente vor allem der Anbahnung von Kontakten, ... sowie der ersten gemeinsamen Vergegenwärtigung bestimmter therapeutischer Techniken in ihrem Geschichte und Entwicklung der Arbeitstherapie gesellschaftlichen, institutionellen und rehabilitativen Zusammenhang". (Sozialpsychiatrische Informationen Nr. l, 1971,1995) 

Schon bei diesem ersten Treffen stellte die Auseinandersetzung mit Arbeit als Therapie einen der Schwerpunkte dar. Am Beispiel einiger in- und ausländischer arbeitstherapeutischer Modelle ging man „der Frage nach, was nun eigentlich das “Therapeutische“ an der Arbeit sei (unter Berücksichtigung ihrer instrumentellen und sozioemotionalen Dimension)". In der Diskussion wurden zwei Strömungen deutlich, die erste ging von der „Abhängigkeit des eigenen Tuns von bestimmten ökonomischen, politischen und/ oder gesellschaftlichen Interessen" aus, während die zweite sich mehr von praktischen Aspekten leiten ließ und die „Überwindung der noch vorherrschenden ausgrenzenden und kustodialen Krankenhauspsychiatrie" als Ziel sah. (Sozialpsychiatrische Informationen Nr. l, 1971,1995) 

Neben den vielen strukturellen Reformveränderungen dieser Zeit entstand für die inhaltliche Auseinandersetzung mit Arbeitstherapie in Deutschland eine neue Situation. Die therapeutische Wirksamkeit von Arbeit war in Ländern wie England, Frankreich und Italien, in denen sozialpsychiatrische Arbeitsinhalte schon länger existierten, in vielen Forschungsarbeiten untersucht worden. Die bestehenden Rehabilitationskonzepte von Bennett (1985), die Arbeiten von Wing (1972) und Freudenberg (1972), das Modell zu den Wirkungsfaktoren von Arbeit von Cumming und Cumming (1968) sowie die gesellschaftskritischen Ausführungen von Jervis (1980) und Basaglia (1973) erleichterten und beeinflussten die aufkommenden Diskussionen um eine mögliche Theorie und die Entwicklung möglicher Methoden.

In dieser Zeit wurden die arbeitstherapeutischen Belange in Deutschland vor allem von Christiane Haerlin (1987, 1991, 1992) vertreten. Beeinflusst durch die Arbeit von Bennett sah sie in ihrer Arbeit als Beschäftigungstherapeutin schon sehr früh einen arbeitstherapeutischen Schwerpunkt.

Beschäftigungs- und Arbeitstherapie - Massenarbeitslosigkeit -außerklinische Arbeitstherapie

Anfang der achtziger Jahre begannen die ersten nach dem neuen Berufsgesetz von 1977 ausgebildeten Beschäftigungs- und Arbeitstherapeuten mit ihrer Arbeit. Mit der Einbeziehung der Arbeitstherapie in die Berufsausbildung und -bezeichnung gab es erstmals eine Berufsgruppe, die für diese Arbeit ausgebildet war. Auch wenn die notwendigen theoretischen und methodischen Entwicklungen nur langsam vorankamen, entstand doch eine spezialisierte fachliche Auseinandersetzung, die reibungslos an den Erkenntnissen der Sozialpsychiatrie anknüpfen konnte.  

Auch hier sind die ersten Ausarbeitungen und Veröffentlichungen eng mit dem Namen Christiane Haerlin verbunden. Schon ihre ersten Aufsätze Ende der siebziger Jahre zeigen eine systematisierte arbeitstherapeutische Vorgehensweise auf, die bis heute ihre Wertigkeit nicht verloren hat. Von Bedeutung ist auch die von ihr herausgegebene Schriftenreihe zur Arbeitstherapie, welche nun neu aufgelegt unter dem Namen Reha-PRAXIS erscheint. Die Schriftenreihe und das von Hartmut Hohm geschriebene Buch zur beruflichen Rehabilitation von psychisch kranken Menschen (Hohm 1977) prägten die arbeitstherapeutische Konzeptentwicklung in Deutschland ganz entscheidend.

Mit Haerlin und Hohm entwickelte sich zunehmend eine eher rehabilitative, nach draußen gerichtete Sichtweise der Arbeitstherapie. Die Auseinandersetzung mit realistischen Arbeitsanforderungen lenkte den Blick immer mehr über die Klinikmauern hinaus in die Betriebe. 

Daneben gelangte durch die aufkommende Arbeitslosigkeit das Thema Arbeit in dieser Zeit in die Öffentlichkeit. Besonders betroffen waren die gesellschaftlichen Randgruppen, die bislang von den zu Zeiten der Hochkonjunktur bestehenden Nischenarbeitsplätzen profitierten und für die sich nun eine mögliche (Wieder-) Eingliederung als immer schwieriger erwies. In diesem Zusammenhang entstand eine Fülle von Sondermaßnahmen, die alle zum Ziel hatten, benachteiligte Menschen wieder in den Arbeitsprozess einzugliedern. 

Unter diesen Bedingungen musste sich die Arbeit der klinischen Arbeitstherapie von ihrer Ausrichtung immer mehr an den gesellschaftlichen Bedingungen und damit in ihrer Praxis an möglichen weiterführenden außerklinischen Angeboten orientieren. Rehabilitationsabklärung und Diagnostik standen zunehmend im Vordergrund. Dem auslaufenden Modellprogramm der Bundesregierung folgten Empfehlungen (BMG 1988), nach denen sich die Versorgung weitgehend gemeindenah und außerhalb der Kliniken entwickelte. Für die Arbeitstherapie entstanden neue Arbeitsfelder, wie z.B. Tagesstätten, berufsbegleitende Dienste (BBD), Rehabilitationseinrichtungen für psychisch Kranke (RPK) und Berufstrainingszentren (BTZ). 

Die Psychiatrie - Personalverordnung – Massenarbeitslosigkeit - Gesundheitsreform

Die Reformbewegung der siebziger und achtziger Jahre war spätestens mit Beginn der neunziger Jahre in das normale politische Geschehen eingegangen. Die mit der deutschen Wiedervereinigung verbundenen gesamtgesellschaftlichen Veränderungen führten zu einer in der Nachkriegszeit in Deutschland bislang nie aufgetretenen Massenarbeitslosigkeit. Parallel dazu gerieten die bestehenden Sozialkassen in eine ernste Krise, was zu extremen Kosteneinsparungen und damit verbundenen Strukturreformen im Gesundheitswesen führte. Die Gesundheitsreform forderte von den Versicherten in mehreren Stufen immer höhere Eigenleistungen unter gleichzeitiger Einschränkung der bestehenden Behandlungs- und Leistungsmöglichkeiten. 

Für die Arbeitstherapie als vorwiegend im Bereich der medizinischen Rehabilitation tätige Behandlung äußerte sich dies zunächst auf struktureller Ebene. Durch die Reduzierung der Bettenzahlen und die Verkürzung der Aufenthaltsdauer auf durchschnittlich 20-30 Tage waren bisherige Konzepte kaum noch realisierbar. Die seit der Psychiatrie-Personalverordnung vom 01.01.1991 wesentliche Verbesserung der Personalsituation in den psychiatrischen Kliniken veränderte sich Mitte der neunziger Jahre durch die Realberechnung der Personalziffern anhand der durchschnittlichen Belegung wieder. Dies führte in den arbeitstherapeutischen Bereichen nun auch zu personellen Veränderungen.  

Einige Kliniken begegneten dieser Entwicklung, indem sie ambulante und teilstationäre Angebote entwickelten oder enger mit außerklinischen Einrichtungen zusammenarbeiteten. Dabei entstanden im Rahmen der klinischen Möglichkeiten auch Dienstleistungsangebote für ambulante oder teilstationäre Rehaeinrichtungen, die auch dort abgerechnet wurden (Mark u. Reick 1996).  

Auf der Suche nach neuen Finanzierungsmöglichkeiten wird die Arbeitstherapie als kassenabrechenbare Leistung immer wieder auch in solchen Bereichen diskutiert, wo sie bislang eher nur am Rande tätig war. In einigen Arbeitsfeldern, wie z.B. Tagesstätten entstehen Kombinationen zwischen Leistungen der sozialen und der medizinischen Rehabilitation. Die ergotherapeutische Arbeit erhält in diesen Bereichen einen eher tagesstrukturierenden Charakter; es kommt zur Aufhebung der Trennung von BT und AT (Marotzki u. Rokahr 1993).

Diskussionsfragen:

Wo steht die Arbeitstherapie 2007?

Wie hat sich die Arbeitstherapie weiterentwickelt?

Welchen Herausforderungen sollte sich eine zeitgemäße Arbeitstherapie stellen?

In welchen Bereichen findet Arbeitstherapie statt?

Welche arbeitstherapeutische Konzepte gibt es?

Welchen Stellenwert hat die Arbeitstherapie innerhalb der Ergotherapie?

Senden Sie uns Ihren Beitrag zum Stand der Arbeitstherapie 2007.

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